Sonntag, 3. Juli 2011

Qualitätsmanagement bei Lamborghini: Die Ordnung der Dinge

Über Qualität sprach man bei Lamborghini noch vor zehn Jahren nur hinter vorgehaltener Hand – und mit entschuldigendem Lächeln. Heute präsentiert sich die italienische Sportwagenmarke als Vorzeigeunternehmen für Qualitätsmanagement. Ein Werksbesuch.

Wenn man bei Wikipedia den Begriff „Testfahrer“ eintippt, sollte eigentlich ein Bild von Mario Fasanetto erscheinen: Braungebrannt und studiogestählt, mit markanter römischer Nase und riesigem rotem Stier auf dem hautengen Poloshirt, dazu die obligatorische Spiegelsonnenbrille und am Handgelenk ein Sportchronograph in Übergröße. Seit 1985 arbeitet er für Lamborghini – gelernt hat er bei Valentino Balboni, dem Großmeister der italienischen Testfahrerzunft. Am Steuer des feuerspuckenden Supersportwagens Diablo, den er durch die Dörfer und Industriegebiete um Sant’Agata Bolognese brüllen ließ, trainierte er seine Sinne für die Feinheiten der Mensch-Maschine-Kommunikation: Jeder trockene Huster des Zwölfzylinders, jede Vibration des Fahrwerks konnte auf einen Fehler hinweisen. Und davon gab es bis in die späten Neunzigerjahren noch mehr als genug.
Wer damals einen Lamborghini besaß, musste leidensfähig sein. Sicherlich, die keilförmigen Sportwagen mit dem Stier im Logo waren schnell, flach, laut und kompromissloser als die eleganten Vorzeige-Pferdchen von Ferrari. Doch wer sich offen darüber beschwerte, seine launische Diva schon wieder in die Werkstatt bringen zu müssen, galt unter Lamborghini-Fahrern als unwürdig. Also hielt man den Mund, unterschrieb Rechnung um Rechnung und hoffte beim Beschleunigungsritt auf der linken Spur, dass auch alle Schrauben angezogen waren. Seitdem hat sich einiges geändert. Nach langer finanzieller Odyssee und zahlreichen Inhaberwechseln wurde die Marke Lamborghini im Jahr 1998 von der Audi AG aufgekauft – und nach bayerischem Vorbild Stück für Stück auf Kurs gebracht.
Mit routinierten Bewegungen zieht Mario Fasanetto die Flügeltüren zu und öffnet den kleinen roten Sicherheitsverschluss auf der Mittelkonsole, unter dem sich – wie bei einem Jagdflugzeug – der Startknopf befindet. Der Lamborghini Aventador LP700-4 ist das neue Spitzenmodell im Portfolio der Italiener, 700 PS stark, 350 km/h schnell und doppelt so breit wie hoch. Für die finale Testfahrt vor der Auslieferung an den Besitzer wird dem Sportwagen eine weiße Schutzhülle übergezogen, um den Lack vor Steinschlag zu schützen. Eine abgesperrte Teststrecke wie bei anderen Herstellern gibt es schließlich nicht. Doch Anwohner und Polizei sind gnädig, fast jeder hat einen Schwager oder Cousin, der bei Lamborghini arbeitet. Mit dumpfem Donnern erwacht der Motor, und Fasanetto lässt den gut 310.000 Euro teuren Zweisitzer vom Firmengelände rollen, um dann hart zu beschleunigen und – im Slalom um rostige Ducato-Lieferwagen und wackelnden Traktoren steuernd – den Rennstrecken-Modus des Sportfahrwerks, das ISR-Performance-Getriebe und die Carbon-Bremsanlage zu testen. Doch Mängel sind Mangelware geworden, schon jetzt gilt der Aventador als einer der fortschrittlichsten Sportwagen auf dem Markt.



Fasanettos öffentliche „Generalprobe“ steht am Ende einer langen Kette von Qualitätskontrollen, die in der Konzeptionsphase beginnt und rund 40 Mitarbeiter umfasst. Im Falle des von Grund auf neu entwickelten Aventador vergingen von den ersten Entwürfen bis zum Start der Produktion etwa fünf Jahre. Im Centro Stile, der internen Designabteilung, wurde der Sportwagen in enger Abstimmung mit den Ingenieuren am Computer entwickelt. Statt wie einst am Zeichenbrett, beginnen die Designer ihre Arbeit heute mit vollvirtuellen 3D-Modellen, die auch höchste technische Anforderungen erfüllen müssen. Schließlich wirbt der Aventador mit Technik auf Formel-1-Niveau: Das Monocoque aus Karbon macht den Straßensportler stabiler und deutlich leichter als den Vorgänger, und ein Fahrwerk mit Pushrod-Federung sorgt für eine völlig neue Präzision. Bei zukünftigen Modellen soll zudem ein neu entwickelter Hightech-Werkstoff namens „Forged Composite“ für noch effizienteren Leichtbau sorgen – Lamborghini arbeitet in diesem Forschungsbereich mittlerweile mit dem US-Flugzeughersteller Boeing zusammen.
Auch in der schöngeistig tönenden Abteilung „Color & Trim“ ist mittlerweile genaueste Antizipation gefragt: Verändern sich die knalligen Farben der Sportsitze bei Lichteinwirkung oder Reibung, hinterlässt die Ziernaht Abdrücke auf dem Rücken des Fahrers, ist der tief orangefarbene Lackton beliebig oft reproduzierbar? Nichts wird hier dem Zufall überlassen. Das Individualisierungsprogramm „Ad Personam“ erhöht den Schwierigkeitsgrad noch weiter. Dabei hängt das Qualitätsniveau natürlich nicht nur von den eigenen Mitarbeitern ab, sondern vor allem von den Zulieferern. Gut 1.000 handverlesene Firmen aus mehr als 30 Ländern versorgen Lamborghini mit Leder, Schrauben, Leuchtdioden, Kabeln, Knöpfen, Lacken, Carbon. Über 2.000 Teile werden im Aventador verbaut, 500 davon sind äußerst komplex. Um bei diesem Konzert der Einzelteile nicht nur den Überblick zu behalten, sondern auch ein perfektes Zusammenspiel zu garantieren, wurde die Abteilung Qualitätsmanagement eingerichtet.

„Italiener sind hier wohl nicht mehr erlaubt“, feixen die Kollegen vom Mailänder Intersection-Magazin und der französischen GQ beim Gang durch die Qualitätssicherung. Lamborghini-Qualitätschef Holger Weichhaus und seine Kollegen Eike Poslednik und Helmut Kellner haben bei Audi in Ingolstadt gelernt, wie man Abläufe optimiert. Nun geben sie ihr Wissen über Prozessqualität und Methodologie an die einheimische Belegschaft weiter. Deutsche Ordnungsliebe statt italienischer Lässigkeit also. Weichhaus spricht von „übertroffenen Erwartungen“ und einem „dramatisch gestiegenen Qualitätsanspruch“. Im Vergleich zum Vorgängermodell Murciélago sei der Aventador von der Verarbeitung her „eine andere Welt“. Das Herzstück der Qualitätskontrolle ist das sogenannte Master Body Center, im dem sich die angelieferten Puzzleteile zu einem kongruenten Ganzen zusammen setzen lassen sollen. Schließlich müssen bei manchen Kunststoffteilen mehr als ein Dutzend Zulieferer denselben Farbton treffen. Am höchsten sind die Ansprüche freilich bei komplexen Strukturen wie dem Kohlefaser-Monocoque des Aventador, wo alles absolut passen muss – „bis auf den 100stel Millimeter präzise.“

Wenn alle Einzelteile eines Modells das „Go“ bekommen haben, startet die Produktion. Die Rohkarosserien werden extern zusammengesetzt, Lederverarbeitung und Montage erfolgen in house. Die Produktion des neuen Lamborghini Aventador dauert insgesamt 50 Stunden pro Auto. Allein an den LED-Scheinwerfern arbeiten 14 Personen. Um bei der notwendigen Balance von Handwerk und High-Tech ein stabiles Qualitätsniveau zu gewährleisten und „Montagsautos“ zu vermeiden, setzten die Expats aus Ingolstadt auch einen neuen Ordnungsbegriff durch. Seitdem sorgen raffinierte Ablage- und Benennungssysteme dafür, dass die Arbeiter auf ihren Positionen alles sauber und beieinander halten.
Wie weit der Qualitätsanspruch tatsächlich geht, lässt sich am schönsten in der hauseigenen Sattlerei beobachten. Dort bearbeiten die Mitarbeiter riesige Lederteile mit weißen Filzstiften, um fehlerhafte Stellen zu enttarnen und auszusortieren. Vor allem bei südamerikanischen Kühen seien Moskitostiche ein Problem, aber auch alters- und sonnenbedingte Falten. „Dies hier könnte man höchstens noch bei Ferrari verwenden“, grinst Produktionschef Ranieri Niccoli mit Blick auf ein besonders malträtiertes Exemplar. Da jede Kuh unterschiedlich ist, wird das Leder zudem horizontal zerteilt, um immer die gleich Stärke zu erhalten. Denn so individuell die Sportwagen aus Sant’Agata erscheinen, so uniform sind sie mittlerweile, was Spaltmaße, Farbtöne und Crashsicherheit angeht. Für romantische Eigenheiten lässt die globalisierte Automobilindustrie keinen Platz.

Die Qualität ist mittlerweile ein solider Wettbewerbsvorteil, vor allem gegenüber kleinen Sportwagenmanufakturen ohne großen Industriepartner im Rücken. Auf dem Besucherparkplatz zeugen die silbernen Audi-Limousinen mit IN-Kennzeichen derweil vom wirtschaftlichen Interesse hinter der „Entwicklungshilfe“: Als technologische Avantgarde entwickelt Lamborghini heute die Technik, die in ein paar Jahren auch bei anderen Marken der Volkswagen-Gruppe zum Einsatz kommen wird. Vor allem bei der Kohlefaser, die Autos leichter und somit sparsamer macht, ziehen die Italiener derzeit an der Konkurrenz vorbei. Die Kunden bekommen hiervon jedoch nicht viel mit – gerade für die Traditionskunden dürften schon die ausbleibenden Werkstatttermine Freude genug sein.
Quelle: Classic Driver

1 Kommentar:

  1. Wenn das ist was die unter einem modernen QM in der Automobilindustrie verstehen, dann ist das nicht viel.

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